Redebeitrag zum internationalen Tag der politischen Gefangenen

Redebeitrag zum internationalen Tag der politischen Gefangenen, 18.03.2021:

Transformative Justice & Community Accountability

In erster Linie geht es heute um politische Gefangene und darum, wie absurd es ist,
aus der politischen Einstellung einer Person einen Haftgrund zu konstruieren.
Darüber hinaus bietet Haft, also das Wegsperren von Menschen, jedoch auch Anlass
zu einer grundsätzlichen Kritik.
Eine Inhaftierung ist ein gravierender Einschnitt in die Freiheitsrechte der oder des
Einzelnen. Im Knast gibt es so gut wie keine Gestaltungsspielräume für das eigene
Leben sowie die eigene Entwicklung.
Haft bedeutet auch eine Einschränkung, vielleicht sogar den Verlust, von Kontakten
zum nahen und weiteren Umfeld. Stattdessen werden Gefangene durch die
gesammelte Unterbringung im Knast in eine parallele Welt gezwungen. Es entsteht
eine Trennung zwischen „drinnen“ und „draußen“, die gesellschaftliche Teilhabe
unmöglich macht.
Aus dem sehr verständlichen Wunsch nach Sicherheit heraus findet das Konzept der
Inhaftierung eine breite gesellschaftliche Basis. Das Wegsperren von Menschen,
denen Verletzungen anderer angelastet werden, ist allgemein üblich und wird selten in
Frage gestellt. Im Gegenteil, nehmen doch die Forderungen nach „mehr Sicherheit“
eher zu.
Diese Sicherheit ist eine Illusion. Inhaftierung macht die Menschen unsichtbar, nicht
ihre Taten.
Durch Strafen wird Gewalt nicht beendet, sie wird fortgeführt. Praktisch durch jene,
die die Gesetze ausführen, theoretisch durch alle, die sie legitimieren. Die dabei
häufig bemühte Vorstellung einer Resozialisierung, also einer Rückführung von
Gefangenen zu einem Leben innerhalb gesellschaftlicher Normen, kann wohl kaum
in Gefängnissen außerhalb dieser Gesellschaft stattfinden.
Darüber hinaus bedeutet diese vermeintliche Sicherheit für manche das komplette
Gegenteil. Menschen, die ohnehin bereits von Diskriminierungen betroffen sind,
riskieren mit einem Anruf bei der Polizei statt der erhofften Hilfe stets auch erneute
Gewalterfahrungen. Diese Gewalt kann sie selbst treffen, aber auch diejenigen, deren
Verhalten zur Anzeige gebracht werden soll – hier lauert anstelle eines vermeintlich
gerechten Verfahrens oft ein Vorgehen mit doppelter Härte.
Nett ausgedrückt unterliegen auch die Personen innerhalb der Repressionsorgane den
vorherrschenden gesellschaftlichen Einflüssen und reproduzieren dadurch immer
auch gesellschaftliche Vorurteile. Weniger nett ausgedrückt geraten aus den Kreisen
von Polizei und Staatsorganen inzwischen dermaßen viele rassistische,
antiziganistische, antisemitische Vorfälle zu Tage, dass es schmerzt, diese weiterhin
als Einzelfälle zu bezeichnen. Die Bandbreite reicht von privaten Chatnachrichten
über nachlässige Ermittlungen bis zu Tötungen.Unsere Kritik richtet sich nicht gegen das menschliche Grundbedürfnis nach
Sicherheit. Im Gegenteil, wir wünschen uns mehr Sicherheit: ein sicheres Leben für
alle Menschen.
Dazu braucht es ein Ende von Gewalt anstelle von deren Fortführung. Es braucht
Awareness im Umgang miteinander und Respekt vor dem Gegenüber. Es braucht die
Anerkennung der Tatsache, dass wirklich alle Menschen zur Gemeinschaft
dazugehören und niemand verzichtbar ist.
Wir machen uns keine Illusionen. Auch unter solchen Bedingungen werden manche
Menschen andere Menschen verletzen und gegen gemeinsame Normen verstoßen.
Doch anstelle einer Antwort aus Gegengewalt müssen Lösungen treten. Jedem
Verhalten muss dort begegnet werden, wo es entstanden ist. Nur, wenn wir uns
gemeinsam der Übernahme von Verantwortung stellen, können wir Strukturen
schaffen, die für alle Menschen zugänglich sind.
Wer das für eine Utopie hält: Das Konzept der Community Accountability ist keine
neue Erfindung. Zurückgeführt wird es auf verschiedene First Nations, also indigene
Gemeinschaften Nordamerikas. Communities von Queers und People of Colour
machten Elemente daraus zu ihrer eigenen Praxis, um innerhalb eines rassistischen
Staates überhaupt erst Formen von Gerechtigkeit zu ermöglichen. Andere
marginalisierte Gruppen übernahmen diese Erfahrungen und trugen sie weiter: in
selbstverwaltete Zentren, in Nachbarschaften und Wohnprojekte, in Räume von
Subkultur, in Freundeskreise. Mit der Unterstützung Betroffener im Vordergrund
arbeiten selbstorganisierte Kleingruppen mit den Menschen, die Gewalt ausgeübt
haben und lernen wollen, ihr Verhalten dauerhaft zu ändern.
Lasst uns diese Strukturen anschauen, daran anknüpfen, darauf aufbauen.
Für ein besseres Leben, ein Leben in Freiheit, für alle.